Yoga Chikitsa: Ashtanga Yoga als psychosomatische Therapie

Schatten einer meditierenden Person mit Chakren an einer alten Wand – Symbol für Heilung durch Ashtanga Yoga als psychosomatische Therapie

Im sich entwickelnden Feld der psychosomatischen Medizin wird heute weithin anerkannt, dass Trauma und chronischer Stress nicht bloß psychischer Natur sind – sie sind physiologisch. Diese Erfahrungen sind verkörpert, gespeichert im Gewebe, in Atemmustern und im autonomen Nervensystem. Während Praktiken wie Achtsamkeit, somatische Therapie und therapeutische Bewegung zunehmend Teil integrativer Heilansätze sind, bleibt Ashtanga Yoga als psychosomatische Therapie ein weitgehend ungenutztes und oft missverstandenes System.

Die von Pattabhi Jois überlieferte Primary Series wird traditionell als Yoga Chikitsa bezeichnet – als „Yoga-Therapie“ – und das mit gutem Grund. Doch die therapeutische Tiefe dieses Systems ist nicht unmittelbar offensichtlich. Sie offenbart sich erst bei näherer Betrachtung der subtilen, vielschichtigen Wirkweisen des Yoga auf den psychosomatischen Körper.

Oft fälschlich als dogmatische oder sportliche Disziplin angesehen, ist Ashtanga Yoga – therapeutisch sensibel praktiziert – keine Performance, sondern eine Praxis der Präsenz und des ayurvedischen Ausgleichs. Es bietet einen strukturierten, atemzentrierten Weg zur Selbstregulation, somatischen Reintegration und inneren Stärke – allesamt Grundpfeiler der Heilung bei psychosomatischen Beschwerden.


Atem und Bandha – Der Vagusnerv als Tor zur Regulation

Im Zentrum der therapeutischen Wirkung des Ashtanga Yoga steht die Integration von Ujjayi-Atem und Mula Bandha. Diese sind nicht bloß unterstützende Techniken – sie sind zentrale Mechanismen, über die die Praxis auf das autonome Nervensystem wirkt: jenes System, das für Stressreaktion, Verdauung, Immunsystem, Herzfrequenz und mehr verantwortlich ist.

Was diese Praktiken so kraftvoll macht, ist ihr direkter Einfluss auf den Vagusnerv – den zehnten Hirnnerv und Hauptbestandteil des parasympathischen Nervensystems.

Der Vagusnerv (lateinisch „vagus“ = umherschweifend) zieht vom Hirnstamm über Hals und Brust bis in die Bauch- und Beckenhöhlen. Er versorgt fast alle inneren Organe: Herz, Lunge, Verdauungstrakt, Nieren und Fortpflanzungsorgane. Er ist eine essenzielle Verbindung zwischen Gehirn und Körper.

Wird dieser Nerv sanft und rhythmisch stimuliert, schaltet der Körper vom sympathischen (Kampf-oder-Flucht-)Zustand in den parasympathischen Zustand – Ruhe, Verdauung, Regeneration. Dieser Wechsel ist zentral für die Heilung psychosomatischer Zustände, bei denen chronische Dysregulation zu vielfältigen Symptomen führt.

Ujjayi-Atem wirkt auf den Vagusnerv im Halsbereich. Die leichte Verengung der Stimmritze und die verlängerte, kontrollierte Ausatmung stärken den Vagustonus – sie senken den Puls, den Blutdruck und erzeugen ein Gefühl der inneren Ruhe. Auch das hörbare Rauschen des Atems stimuliert den Vagus über Gehör und Stimmtrakt.

Mula Bandha, korrekt ausgeführt, wirkt auf den sakralen Anteil des Vagus. Die Aktivierung des Beckenbodens stärkt die umgebende Muskulatur und unterstützt die tieferliegenden Organe. Zugleich lenkt sie die Wahrnehmung in den unteren Körperraum – ein wesentlicher Gegenpol für jene, deren Trauma sich in Dissoziation oder Entfremdung vom Becken manifestiert.

Werden Ujjayi und Mula Bandha kombiniert, entsteht eine bidirektionale Stimulation des Vagus – vom Hals bis zum Becken – mit kohärenten Signalen von Sicherheit an das gesamte System. Diese ganzheitliche Aktivierung bildet eine regulierende Verbindung entlang des Zentralkanals, von der Schädelbasis bis zum Beckenboden.

Diese vagale Stimulation ist nicht abstrakt – sie ist somatisch erfahrbar: als Atemruhe, als Wärme im Zentrum, als Beruhigung des Geistes. Mit der Zeit stärkt dies die Fähigkeit zur emotionalen Regulation, zur körperlichen Resilienz und zu einem integrierten Selbstgefühl.

Selbst ohne fortgeschrittene Asanas – oder ganz ohne Körperhaltungen – können diese beiden Elemente allein, regelmäßig geübt, tiefgreifende Wirkungen entfalten. Sie bieten eine kraftvolle Form innerer Medizin durch Atem, Bewusstheit und feine muskuläre Aktivierung.


Sūrya Namaskāra – Agni entfachen, das Selbst wecken

Jede Ashtanga-Praxis beginnt – nach innerer Einstimmung und Etablierung von Ujjayi und Mula Bandha – mit Sūrya Namaskāra A und B, den Sonnengrüßen. Diese sind weit mehr als Aufwärmübungen – sie sind ein metabolisches und energetisches Zünden, ein Erwachen von Körper und Geist.

In ayurvedischer Sprache aktivieren sie Agni, das innere Feuer, zuständig für Verdauung, zelluläre Intelligenz und geistige Klarheit. In psychosomatischer Sprache steht Agni für die Fähigkeit des Körpers, Erfahrungen zu verarbeiten – Emotionen, Stress, Erinnerung.

Der gleichmäßige Rhythmus der Sonnengrüße:

– stimuliert Herz- und Lymphsystem
– synchronisiert Atem und Bewegung, unterstützt neuronale Kohärenz
– erwärmt Faszien, Gelenke und Muskeln für tiefere Öffnung

Über das Physische hinaus hat die Sonne auch symbolische Bedeutung. In der vedischen Astrologie (Jyotish) steht Sūrya, die Sonne, für das Ātman – das wahre Selbst, die Seele. Sie steht für Klarheit, Selbstvertrauen und Sinn. Wo psychosomatische Leiden das Selbstbild zersetzen, wird der tägliche Sonnengruß zur Rückkehr zum Selbst – eine Huldigung des inneren Lichts.


Faszien – Das emotionale Archiv des Körpers

Nach den Sonnengrüßen führt die Primary Series durch eine feste Abfolge von Haltungen, beginnend mit sechs fundamentalen Asanas, die das myofasziale Netzwerk ansprechen. Faszien, einst als passiv betrachtet, gelten heute als hochsensibles, emotional reagierendes Gewebe. Sie umhüllen Muskeln, Knochen und Organe und passen sich ständig an physische und emotionale Zustände an.

Bei chronischem Stress oder Trauma können Faszien verdichten, austrocknen und sich verhärten – mit direkten Auswirkungen auf Haltung und Gefühlshaushalt. Die Primary Series wirkt dem durch rhythmische, atemgeführte Bewegung entgegen, die:

– große Faszienbahnen hydratisiert und weich macht
– gespeicherte Spannung in der „Deep Front Line“ löst (assoziiert mit Schutz- und Angstreaktionen)
– die Interozeption stärkt – das Spüren innerer Körperzustände

Die sechs Grundhaltungen und die frühe stehende Sequenz zielen auf wichtige Faszienlinien: die oberflächliche Rückenlinie, Laterallinien, Spirallinien und tiefe Kernstrukturen. Werden die Faszien geschmeidiger, gewinnt der Körper Beweglichkeit – und das Nervensystem beginnt, Sicherheit statt Reaktivität zu erfahren.

Hormonsystem und Chakren – Die energetische Dimension der Heilung

Neben Atem, Faszien und Nervensystem beeinflusst Ashtanga Yoga auch das endokrine System – jenes feine Netzwerk hormoneller Regulation, das eng mit Emotionen, Schlaf, Stoffwechsel und seelischem Gleichgewicht verknüpft ist. Jede Haltung der Primary Series stimuliert spezifische Drüsenbereiche über Druck, Dehnung und Atemführung: etwa Schilddrüse (Halsöffner), Nebennieren (Vorbeugen und Twists), Eierstöcke/Hoden (Beckenschluss) oder Hypophyse (Umkehrhaltungen) auf systematische Weise.

Diese physiologische Wirkung überschneidet sich mit der energetischen Wirkung auf die Chakren – die sieben Hauptenergiezentren entlang der Wirbelsäule, die mit sowohl endokrinen Drüsen als auch seelisch-geistigen Themen verbunden sind. So wirkt Yoga Chikitsa auch subtil ordnend auf Ebenen wie Identität, Vertrauen, Ausdruck und Intuition.

Ashtanga Yoga in therapeutischer Ausrichtung hilft, diese Energiezentren behutsam zu balancieren – nicht durch forcierte Öffnung, sondern durch Präsenz, Atemführung und beständige Praxis. Die Wiederholung der Sequenz, der Fokus auf Mula Bandha und die aufsteigende Atemwelle entlang der Wirbelsäule unterstützen dabei eine tiefe Harmonisierung von Körper, Hormonhaushalt und feinstofflichem Energiesystem.


Atem und Bandha – Regulierung über den Vagusnerv

Durch die gesamte Sequenz führt der Atem. Zentral ist Ujjayi Prāṇāyāma, ein sanftes Atemmuster mit leichter Stimmritzenverengung, das einen gleichmäßigen, hörbaren Atemfluss erzeugt. In Kombination mit dem inneren Halt von Mula Bandha wirkt dies direkt auf den Vagusnerv – Hauptleiter des parasympathischen Systems.

– Ujjayi verlängert die Ausatmung, stärkt den Vagustonus, senkt die Herzfrequenz
– Mula Bandha aktiviert die Beckenbodenmuskulatur und unterstützt den sakralen Vagusausfluss
– Gemeinsam erzeugen sie ein Gefühl von innerem Halt, Stabilität und Selbstregulation

Diese Werkzeuge helfen, das autonome Nervensystem neu zu regulieren – weg von chronischem Alarmzustand hin zu Ruhe, Regeneration und Integration. Bei psychosomatischen Leiden, in denen Dysregulation oft chronisch ist, sind diese Praktiken essenziell.


Struktur als Sicherheit – Ein nicht-kompetitiver, therapeutischer Zugang

Ashtanga Yoga wird oft als streng oder hierarchisch erlebt. Doch bei achtsamer Praxis bietet es genau das, was viele Heilungsprozesse brauchen: Rhythmus, Wiederholung und Struktur. Die feste Sequenz ist kein Leistungstest, sondern ein Gefäß, um Intimität mit Atem, Körper und Geist zu entwickeln. Ihre Vorhersehbarkeit wird zur Quelle psychischer Sicherheit – besonders wichtig bei Trauma und psychosomatischer Dysregulation, wo das innere Erleben oft chaotisch wirkt.

Anpassungen sind nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Haltungen dürfen vereinfacht, verlangsamt oder ganz weggelassen werden. Entscheidend sind Achtsamkeit, Atemqualität und Regelmäßigkeit.


Yoga Chikitsa – Yoga als Medizin

In ihrer ursprünglichen Form geht es in der Primary Series nicht darum, Asanas zu meistern, sondern um Wiederherstellung von Balance. Sie ist Yoga Chikitsa – eine tägliche Behandlung für das ganze Wesen. Sie entfacht Agni. Sie aktiviert den Atem. Sie mobilisiert Faszien. Sie stimuliert den Vagusnerv. Sie lehrt Präsenz durch Wiederholung und Vertrauen durch Disziplin.

Für Menschen mit psychosomatischen Beschwerden, chronischem Stress oder Trauma bietet diese Praxis etwas Tiefgreifendes: keine schnelle Lösung, sondern einen Weg. Einen Rückweg in den Körper. Eine Rückverbindung zum Selbst. Eine Rückkehr zu Rhythmus, Resilienz und Ganzheit.


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Alles Liebe,

eure Sandra

Hier noch ein paar interessante Links zum nachforschen:

  1. Wissenschaftlicher Hintergrund zu Vagusnerv und Trauma:
    – https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5869884/
    (Artikel: The Polyvagal Theory: New insights into adaptive reactions of the autonomic nervous system – Stephen Porges)
  2. Faszien und Emotionen (Deutsch):
    – https://www.faszienwissen.de/faszien-und-psyche.html
    (Grundlagenartikel zur Verbindung zwischen Faszien und Emotionen)
  3. Ayurveda und Agni (Englisch):
    – https://www.ayurveda.com/resources/articles/agni-the-key-to-health
    (Artikel: Agni: The Key to Health – The Ayurvedic Institute)
  4. Ashtanga Yoga – Traditioneller Hintergrund:
    – https://kpjayi.org
    (Offizielle Website des Krishna Pattabhi Jois Ashtanga Yoga Institute)

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