Kali in der Form eines Virus

Es ist einmal wieder so weit. Ich habe mir einen Virus eingefangen.
Carlos – mein Partner – hat ihn von seiner Reise nach Spanien mitgebracht, zusammen mit einer Geschichte über Traurigkeit, Erinnerungen und Loslassen.
Diese Geschichte möchte ich euch – mit seiner Erlaubnis – heute erzählen – weil ich ohnehin nichts anderes zu tun habe. Warum? Weil es auch eine Ayurvedische Geschichte ist, und eine Geschichte über die wunderbare Intelligenz des Körpers.

Es war einmal ein kleiner spanischer Junge. Er war sensibel und liebenswert und kreativ und er sprach keine anderen Sprachen als seine eigene, trotzdem wurde von zu Hause fortgebracht, um an einem kalten und verschneiten Ort zu leben, wo die Menschen nur Deutsch sprachen. Dort wurde er von den anderen Kindern geächtet und schikaniert, so dass seine Eltern ihn bald wieder zurück nach Spanien schickten, wo er bei seinem Onkel und seiner Tante lebte. Aber einige Zeit später, als er sich gerade begann wohl und sicher zu fühlen, wurde er schon wieder abgeholt und an den kalten und verschneiten Ort zurückgebracht. Diesmal blieb er für immer. Er stellte sich tapfer und fand eine Gruppe von Freunden, die so waren wie er. Er lernte die deutsche Sprache und wuchs auf wie alle anderen, nur dass er einen Teil seiner Seele in Spanien gelassen hatte. Seinen Eltern ging es wohl genauso, denn sobald der kleine spanische Junge gross genug war um alleine zu leben, zogen sie dorthin zurück. Sein Leben lang reiste der Junge also hin und her, fuhr nach Spanien und wieder zurück, und jedes Mal überkam ihm die Sehnsucht, an einen der beiden Orte zu gehören, aber jedes Mal wurde er daran erinnert, dass es nicht so war. Es konnte auch nicht so sein, denn seine Seele war geteilt.


Dann, eines Tages, starb seine Mutter und hinterließ ein großes Gefühl der Trauer und der Schuld in seiner Brust.
Nicht lange danach starb auch sein Vater und hinterließ in ihm ein Gefühl der Wut, die sich in seinem Herzen ausbreitete. Diese Gefühle wurden mit der Zeit stark, dass sie ihn fast lähmten. Jahrelang rührte er die Sachen seiner Eltern nicht an, ließ alles in ihrer Wohnung an seinem Platz. Selbst die Schuhe seines Vaters standen nebeneinander im Flur, bereit, getragen zu werden, zum täglichen Spaziergang am Fluss. Die Kleidung seiner Mutter, ihre Kochtöpfe und Pfannen, die Fotos, die sie an der Wand aufgehängt hatte – all das blieb unberührt, bis sich auf ihnen eine Schicht aus klebrigen Staub bildete, in die sich umherwandernde Geister einnisteten. Sie lebten zu hunderten in diesen Schichten, in der Luft und auf den Schränken und unter dem Bett und sie klagten jedem, der sich dort aufhielt, ihr Leid. Sie schlichen sich in die Träume und Gedanken der Besucher bis diese glaubten, dass all das Leid, das sie auf einmal spürten, ihr eigenes wäre. Sogar Salz, Weihrauch und Kerzenlicht konnten sie nicht vertreiben.

Eines Tages beschloss der kleine Junge, der nun längst ein erwachsener Mann war und ein erfülltes Leben hinter sich hatte, die Geister von ihren Staubschichten zu befreien. Er beschloss, seinem Vater zu vergeben und auch seine eigenen Schuldgefühle loszulassen. Er beschloss sogar, sich seiner grössten Angst zu stellen – die Angst, seine Seele zu verlieren, die er ja vor so langer Zeit in Spanien zurückgelassen hatte. Mit der Angst erwachte auch ein lange begrabenes Gefühl der Trauer. Sie kristallisierte und manifestierte sich in seinem Körper – dort, wo Trauer sich immer zeigt: in seiner Brust. Und so geschwächt, lockte er die Göttin Kali an, die in Form eines Viruses kampfbereit in seinen Körper stürmte und alles was in alter Ordnung war, durcheinander brachte, um eine neue Ordnung zu erschaffen.


Ohne es zu wissen, trug er Kali mit sich nach Hause, im Flugzeug über den Himmel und über Seen und Flüsse und liess sie in ihm wüten, bis der Kummer in seiner Brust wie Butter zu kleinen Klumpen gestampft wurde.
Sein Körper, der genau weiß, was er tun muss, um die Seele zu schützen, krampft und hustet diese Klumpen nun aus sich heraus und befreit sich so von der giftigen Manifestation von Angst und Trauer aus seinem physischen und emotionalen Selbst.
Sein Herz und seine Lungen wehren sich gegen alte Geister, und wenn er dann endlich wirklich loslässt, wird sein Brustkorb wieder leicht sein und Platz für seine Seele schaffen, die er vor so langer Zeit zurückgelassen hat, und die jetzt endlich wieder einziehen kann.

Ja, es ist tatsächlich eine große Entscheidung, eine, die das Gewicht der Erinnerungen von Generationen trägt, das Leid vieler, das jetzt losgelassen wird. Es ist ein schwerer Prozess, zäh wie Schleim, der in winzigen Alveolarspalten festsitzt, aber er ist notwendig, genau wie alle Prozesse der Entscheidung, der Trennung und des loslassens notwendig sind. Oft erkennen wir sie an dem Zustand, der in unserer Brust herrscht.

Wie immer können wir unserem Körper vollkommen vertrauen – und ihn auf jede erdenkliche Weise unterstützen. Ayurveda gibt uns viele Wege dazu:
Ama – das alte, unverdaute Kapha, der toxisch gewordene Schleim – muss aus unserem Innern ausgeworfen werden. Dabei helfen nicht nur altbewährte Kräuter wie Thymian, Efeu und Ingwer, oder Ayurvedische Kräutermischungen wie Hingwastaka (eines meiner Lieblingsmittel fur viele Vata und Kapha Störungen) sondern auch emotionale Seelsorge. Gerade in einer Zeit von hartnackiger Bronchitis oder anderen Atemwegserkrankungen sollte man die Vorteile dieser natürlichen Entgiftung nutzen und sich die Gefühle von der Seele reden, schreiben, malen, oder was auch immer hilft sich der inneren Prozesse bewusst zu werden, die mit unserem Anahata Chakra zu tun haben.


Der Vata-Aspekt – die seelische Erschütterung des Prozesses, das Trauma der Transformation, die Angst, der Kummer der Vergangenheit und auch der Husten selbst, der Uddana Vayu antreibt, all das braucht eine ruhige Phase zum Ausgleich, eine Phase der Inkubation und der Stille, sowie reichlich warme Flüssigkeit, Tee, warmes Wasser, Suppen und Eintöpfe, die der Trockenheit von Vata entgegenwirken. Ingwer, Tulsi, Thymian, schwarzer Pfeffer, Nelken, Zimt und goldene Kurkuma-Milch beruhigen die Vayus und helfen die Lungen wieder zu öffnen. Warmes Sesamöl auf der Brust, vielleicht mit ein paar Tropfen Eukalyptus für tiefe Atemzüge, oder Rhizinusöl, für besseres Loslösen.


Nur – so weit wie möglich – keine unterdrückenden Hustensäfte, die den Körper an seiner lebenswichtigen Arbeit hindern. Diese Medikamente sind nur für den Notfall gut – wenn Schlafmangel die anderen Probleme überschattet oder besondere Umstände uns zwingen zu funktionieren aber nur im Notfall, nie aus Bequemlichkeit, denn die Folgen sind ein – zumindest teilweises – Verfehlen des eigentlichen Zweckes der Krankheit.


Aus ayurvedischer Sicht ist es eine wunderbare Gelegenheit, das gesamte System von alten Giften zu befreien – nicht nur den physischen, sondern auch den emotionalen.
Auch ist es eine wichtige Gelegenheit für das Immunsystem, sich selbst zu stärken, in sich eine neue Ordnung zu schaffen, aufzuräumen und alle alten, mit der Zeit angesammelten Fremdkörper aus den Lungen und aus dem gesamten Bereich des Herz-Chakra, des Anahata, dem Chakra der Luft, für immer zu entfernen.


Es ist eine Gelegenheit unsere Emotionen zu erleichtern und zu klären, besonders wenn wir uns die Zeit nehmen, Achtsamkeit zu üben und unsere Gefühle bewusst zu verarbeiten. Während wir im Bett oder auf der Couch liegen, könnten wir vielleicht die Zeit mit schreiben, zeichnen, sprechen, meditieren oder Karten legen verbringen oder andere Möglichkeiten nutzen, um zu reflektieren und uns dessen bewusst zu werden, was in uns feststeckt, damit wir es besser loslassen können, es aushusten wie alten Schleim. Und dann können wir wieder stärker und klarer auftauchen, in eine neue Phase unseres Lebens in der sich eine neue Schicht unseres Wesens offenbart. Eine neue Schicht des Selbst, ein neuer Meilenstein auf unserer Reise ist erreicht.


Nach ayurvedischer Auffassung geht es also nicht nur darum, Kräuter einzunehmen, um uns von den lästigen Symptomen zu befreien. Es geht darum, weit hinter das Symptom zu schauen, dem Körper zuzuhören und ihm zu vertrauen und jede Gelegenheit zu nutzen, um zu wachsen, zu heilen und bewusst zu werden.

Es überrascht mich nicht, dass Carlos sich langsamer erholt als ich, dass sein Husten härter und sein Schleim zäher ist. Es überrascht mich nicht, dass für ihn das Leiden an der Krankheit größer ist – nicht nur, weil er ein Mann ist, sondern weil seine Lungen mehr Trauer enthalten als ich, in diesem Moment, weil für ihn mehr auf dem Spiel steht als für mich. Es überrascht mich nicht, dass dies für ihn viel mehr ist als ein Trainingslager der Immunzellen, ein Frühjahrsputz für den Körper. Es ist eine echte Herausforderung, eine Heldentat – eine Übung im Loslassen. Auch wenn auch ich immer noch Trauer in mir trage, nach Irland, nach meinen Kindern, nach meinen Freundinnen, meiner Vergangenheit. Wir alle tragen Trauer in uns.

Für uns alle ist es gut, sich immer wieder an die kosmische Intelligenz unseres Körpers zu erinnern, an den eigentlichen Sinn und Zweck von allem, was wir durchmachen. Es trägt immer, ohne Ausnahme, das Ziel der spirituellen Entwicklung in sich.

Und so liege ich im Bett, trinke Ingwertee, schreibe und telefoniere mit meiner Freundin und reflektiere. Ich versuche, mich nicht schuldig zu fühlen und mich nicht zu schämen, weil ich Menschen im Stich lassen und Kurse absagen muss, sondern dankbar zu sein für diese Gelegenheit und stolz darauf, einen Körper wie diesen zu haben, einen Körper, der meine Seele beschützt und für sie – für mich – kämpft, so bedingungslos wie Kali.

Um mehr über Ayurveda zu erfahren, geh bitte zu https://sandrahayes.de/ayurveda/

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